
von Nele Miesner
“Alles wird zu viel, nur wir, wir werden immer weniger.” Das ‘zu viel’, das ist der Druck, dazuzugehören. Das ist, vor seiner Vergangenheit davon zu laufen und sich zu fragen, wo man eigentlich ankommen will. Das ist die Suche nach dem, was authentisch, was die eigene Wahrheit ist.
Diesen Herausforderungen muss sich die namenlose Protagonistin in Yade Yasemin Önders Debüt-Roman Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron nach dem Unfalltod ihres Vaters stellen. Als Tochter eines türkischstämmigen Vaters und einer deutschen Mutter entwickelt die Ich-Erzählerin aus einem Gefühl von Schuld am Tod ihres Vaters eine Essstörung, die die Beziehung zu sich selbst und ihren Mitmenschen bestimmt. Dies spiegelt sich in der Bearbeitung von Themen wie Identität, Körperwahrnehmung, Verlust und Kommunikation innerhalb von dysfunktionalen Beziehungen über Generationen hinweg wider.
Der Roman besteht aus der fragmenthaften Schilderung einzelner Erfahrungen und Erinnerungen aus Sicht der Protagonistin. Einige Handlungsstränge werden später erneut aufgegriffen und nur mit Hilfe von Details wie Haarfarben wird auf Figuren verwiesen, andere Gesprächsfetzen stehen für sich, ohne räumliche oder zeitliche Einordnung. Bereits das Cover kündigt eine tiefere Auseinandersetzung mit Körper(n) an, in der Romanwelt zieht sich dies als strukturelles Problem durch alle Figurenschicksale. Das Fehlen einer linearen Handlung lässt sich als Versuch lesen, Traumata erzählbar zu machen. Indem kausale Zusammenhänge und Figuren aufgelöst und verfremdet werden, wird die Entfremdung deutlich, die die Erzählerin zu sich selbst und ihrem Umfeld aufbaut. Auch die Schauplätze, die vor allem Anfang und Ende des Romans verorten, sind metaphorisch aufgeladen und eröffnen durch ihre reichen Möglichkeiten der Assoziation Raum dafür, dass das Innenleben der Erzählerin fühlbar wird. Inspiriert von Queneau werden Kernszenen aus verschiedenen Perspektiven durchgespielt, was nach einer ersten Distanzierung von der Protagonistin zu einer Nähe führt.
Vor allem durch seine überwältigende Sprache überzeugt der Roman. Mit einer lyrischen und gleichsam konkreten Sprache, Komposita, subtilen Andeutungen, die sich erst in der Reflektion als bedeutsam herausstellen, entsteht eine sprachlich enorm verdichtete Erzählung. Wie der Bruch zwischen dem pastell-frohen Cover und der immanenten Gewalt innerhalb der erzählten Welt, changiert auch der Leseeindruck zwischen Lachen und Ohnmacht: Auf vordergründig sorglose Szenen, wie das Ausdenken von Rezepten mit der ‘Hauptzutat Luft’, weil die ‘Omi [dann] auch vor Festlichkeiten aller Art einfach auf das Fasten verzichten kann’, folgen Sätze wie ‘Schlag weiter, die tut nur so ohnmächtig!’ aus dem Mund der eigenen Mutter.
Der Roman, der als Leseerlebnis einem Strudel gleicht, in dem sich Humor und Ohnmacht abwechseln und die Leser:innen immer tiefer in das Leben der Protagonistin gezogen werden, schließt jedoch versöhnlich. Auch wenn ihr Leben in seine Einzelteile zerfällt, fügt es sich schließlich in einer surrealistischen Szene wieder zusammen. Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron spricht aus, was oft verschwiegen wird. Und genau deshalb muss es gelesen werden.
Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron, Yade Yasemin Önder, 2022, Kiepenheuer&Witsch, 256 Seiten, 20,00 Euro.