Kaum O.S.T. in Knieper West

Foto: privat

von Farukh Sauerwein

„Wir sind die coolen Jungs mit Gas in unser’n Kinderlungen / Bunte Plattenbauten, Himmel aschgrau / Yeah, hier sind wir zuhaus’ / Uns’re Gangzeichen eingeritzt im Arm / Fenster, die mal Hakenkreuze war’n und Feuerzeugbrandnarben“ rappt Testo, bürgerlich Hendrik Bolz, im Song Plattenbau O.S.T. über seine Jugend in der Stralsunder Plattenbausiedlung Knieper West. Wer den Track von Zugezogen Maskulin kennt, wird in Bolz’ Autobiografie Nullerjahre einiges wiederkennen, Stichworte: Gasziehen, Fahrräder im Moorteich oder Selbstversuche mit Engelstrompeten. Doch das Buch will mehr als nur street-credible Hintergrundgeschichten zu den Lyrics des Berliner Hip-Hop-Duos erzählen. Der Untertitel verspricht einen Bericht über eine „Jugend in blühenden Landschaften“, doch löst das Buch den auf dem Cover angedeutet Anspruch ein, von den Nullerjahren zu erzählen, ohne in eine allzu spezifische Milieustudie abzugleiten?

Nullerjahre will explizit kein Roman sein, sondern ein Memoir über das Aufwachsen in einem Stralsunder Brennpunktviertel, voll von sinnloser Gewalt, eskapistischen Räuschen und fragilen Freundschaften. Allerdings lässt die Vorbemerkung des Autors, dass die wenigsten Dinge genau so passiert seien wie im Buch geschildert, den Verdacht des Autofiktionalen aufkommen und damit die Frage, warum Bolz nicht einfach einen Roman geschrieben hat. Sein literarisches Talent stellt der Autor vielfach unter Beweis: Die eindrücklich beschriebene, fast manische Selbstbeobachtung der Hauptfigur, weil ein zu glänzender Blick oder ein zu wenig aufgepumptes Kreuz die nächste Schlägerei bedeuten könnte. Die Reflexion über die Machtstrukturen und Hierarchien in den verschiedenen Cliquen, die immer wieder als Rechtfertigung für körperliche Gewalt dienen. Das feine Gespür für Orte, den Einsatz von Liedtexten oder den Einbezug zeitgeschichtlicher Ereignisse, etwa den Besuch George W. Bushs in Stralsund. All das verleiht dem Buch einen gehörigen Sog, obwohl auf der Handlungsebene in der ostdeutschen Provinz nicht allzu viel passiert.

Bolz’ Sprache schreit dabei so laut wie das leuchtend gelbe Buchcover, gleitet gelegentlich ins Lautmalerische ab und strotz nur so vor diskriminierenden Kraftausdrücken und politisch unkorrekten Witzen. Das sorgt für Authentizität, trägt aber auch dazu bei, dass man sich weltanschaulich leicht von den Jugendlichen in Hendriks Freundeskreis abgrenzen kann. Zudem ist die Zeichnung der einzelnen Charaktere durch ihre Vielzahl manchmal kaum voneinander zu unterscheiden.

Vor allem in der ersten Hälfte des Buches spielt lautstark vorgebrachtes rechtsextremes Gedankengut eine große Rolle. Immer wieder streut der Autor deshalb kurze Abschnitte mit Hintergrundinformationen zu rechter Gewalt und sozioökonomischen Bedingungen im Ostdeutschland der Nachwendejahre in den Erzähltext ein. Diese Montage funktioniert nur bedingt, da die meisten Fakten einem halbwegs politisch gebildeten Publikum ohnehin bekannt sein sollten. Hier wird der Anspruch kaum verborgen, die geschilderten Erlebnisse doch bitte im Kontext der programmatischen Nullerjahre zu abstrahieren. Es scheint, als wäre Bolz die Erinnerung an sein eigenes Aufwachsen gelegentlich selbst zu haarsträubend geworden, als dass er sie aus seiner heutigen Perspektive unkommentiert hätte niederschreiben können.

Aus literarischer Sicht versuchen die journalistischen Abschnitte zudem eine grundlegende Leerstelle des Textes zu kaschieren: die Abwesenheit der Elterngeneration, einer sozialen Herkunft allgemein. Setzen sich viele in den letzten Jahren erschienene Nachwenderomane, etwa von Lukas Rietzschel, Manja Präkels oder Domenico Müllensiefen, dediziert mit dem Fortwirken der DDR-Strukturen im Nachwende-Osten auseinander, schweben die Jugendlichen in Nullerjahre im orientierungslosen, von Erwachsenen befreiten Vakuum. Das funktioniert erzählerisch insofern, als dass Bolz dadurch, in Kombination mit roher Sprache und einer üppigen Portion Popkultur, eine unmittelbare Nähe zu Hendrik und seinem Umfeld schafft. Als ‚Buch über den Osten‘ qualifiziert sich Nullerjahre deshalb allerdings kaum, da der Ost-West-Gegensatz, die Wendeerfahrung der Eltern oder ein Ost-Habitus (genauso wie ein politisches Bewusstsein) von den jugendlichen Figuren schlicht und ergreifend nicht aufgegriffen werden.

Die stärksten Passagen des Buches sind deshalb auch jene, die in die Kindergartenzeit der frühen Neunzigerjahre zurückblicken. Den Kindern wird hier nach wie vor ein hartes sozialistisches Ideal anerzogen, in dem der einzelne Mensch nichts zählt und höchstens als Hindernis für das Kollektiv wahrgenommen wird. Man wünscht sich, dass der Autor den Mut gehabt hätte, diese intergenerationalen Konflikte der Nachwendezeit auch an anderen Stellen literarisch darzustellen, anstatt sie mit referatsmäßig zitierten Zeitungsartikeln über Arbeitslosenzahlen und Abwanderung lediglich auf faktualer Ebene zu umreißen.

Am Ende tut sich ein bemerkenswerter Zwiespalt zwischen den heutigen Werten des Autors und seiner Vergangenheit auf: „So hab ich mal gelebt, so hab ich mich mal gefühlt, oft kommt es mir vor wie ein schlimmer Traum, wie ein finsteres Märchen, das gar nichts mit meinem heutigen Leben zu tun hat, doch immer öfter fühle ich sie jetzt: die Schuld, die Scham, die Angst, die Trauer.“ Gern wäre man diesem inneren Widerstreit zwischen sozialer Herkunft und gesellschaftlichem Aufstieg in Rückkehr nach Reims-Manier genauer auf den Grund gegangen. Doch Bolz belässt es dabei, die einrahmende Gegenwartsebene des Buches als Vehikel für die Erzählung der Vergangenheit in Knieper West zu nutzen.

Lesenswert ist Nullerjahre als präzise Milieustudie über das Aufwachsen einer Gruppe Jugendlicher in einem sozialen Brennpunkt. Das Buch zeichnet ein eindrucksvolles Panorama über den Beginn des neuen Jahrtausends, der für die Heranwachsenden durch eine Vielzahl von (kulturellen) Transformationen geprägt war: Im Laufe der Jahre werden die Onkelz von Bushido, Skinhead-Look von Hip-Hop-Style, rechte Sprüche von einer apolitischen Schweigsamkeit abgelöst. Die blühenden Landschaften bleiben dabei eher Kulisse, nur ab und zu weht ein Hauch DDR-Vergangenheit durch die Straßen von Knieper West, wie der Güllegeruch von den umliegenden Feldern.

Nullerjahre, Hendrik Bolz, 2022, Kiepenheuer & Witsch, 336 Seiten, 20 Euro.

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