
von Lias Menge
Einfach dem ritualisierten Alltag entfliehen, ausbrechen, abhauen. Dieser Gedanke treibt die Protagonistin Lisbeth in Helene Bukowskis neuem Roman Die Kriegerin an. Auf der Suche nach dem Gefühl der vollständigen Unbeschwertheit verlässt sie ihren Mann und ihr Kind und macht sich sowohl auf physischer, als auch auf psychischer Ebene auf eine Reise. Schnell begegnet sie hierbei einer alten Bekannten aus ihrer Bundeswehrzeit, welche als Die Kriegerin vorgestellt wird.
Im Kontakt mit ihr, aber auch im neuen Kontakt mit sich selbst, reflektiert Lisbeth ihre eigene Vergangenheit und ihr eigenes Sein. Die Rückblicke in ihre Kindheit und Jugend erinnern hierbei schnell an den erfolgreichen, von Nora Fingscheidt produzierten, Film Systemsprenger, denn auch Lisbeth hat schon früh im Leben den Drang des Zerstörens der Norm und des Ausbrechens gehabt. Ihr häufig unkonventionelles und gegen die Regeln der Gesellschaft verstoßendes Handeln prägen den Roman und verhelfen sehr zu seinem Charme. Im weiteren Handlungsverlauf des Werkes führt Die Kriegerin Lisbeth zielgerichtet auf ihrer Suche nach sich selbst, indem sie die Verbindung von Lisbeths Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft darstellt.
Der Roman der, 1993 in Berlin geborenen, Autorin Helene Bukowski ist ihr zweiter nach ihrem erfolgreichen dystopischen Debütroman Milchzähne. Anders als dieser ist ihre Neuerscheinung dieses Mal deutlich klarer in der Gegenwart verortet. Die Behandlung intensiver Themen ist allerdings geblieben.
So gibt es wohl wenig, was so anspruchsvoll und fordernd erscheint wie die eigene Suche nach sich selbst, auf welche sich Lisbeth in Die Kriegerin begibt. Dass Lisbeth hierbei vor allem ihre eigene, teils traumatische, Vergangenheit aufarbeiten muss, macht vieles noch fordernder. Bukowski spricht mit ihrem aktuellen Roman auch immer indirekt die Leser*innen an und macht deutlich, wie sehr uns unsere eigene Vergangenheit unser Leben lang prägt und steuert.
Trotz dieser emotional fordernden Thematik schafft es Bukowski vor allem durch ihre Sprache einen Ausgleich zu schaffen. Ihre treffenden Beschreibungen und die klaren Schilderungen ermöglichen eine vollständige Konzentration auf den Inhalt des Buches und sorgen gleichzeitig dafür, dass man dieses kaum aus der Hand legen möchte, da es sich auf sprachlicher Ebene leicht und angenehm lesen lässt. Besonders beeindruckt Bukowski damit, wie sie ohne Verwendung des Ich-Erzählers eine unglaubliche Nähe zu der Protagonistin Lisbeth entstehen lässt. Dieses Gefühl der Verbundenheit sorgte bei meinem eigenen Leseprozess häufig dafür, dass ich mich erneut vergewissern musste, dass tatsächlich kein Ich-Erzähler das Geschehen schildert.
Auch die textliche Gestaltung sorgt für ein abwechslungsreiches Erlebnis, indem Bukowski Schilderungen der Vergangenheit mit Schilderungen der Gegenwart abwechselt. Auch wenn man sich an dieses alternierende Erzählverhalten zu Beginn des Buches noch gewöhnen muss, wird es schnell zur Gewohnheit und bringt eine interessante Abwechslung. Auch der ständige Einschub von Briefen, welche Lisbeth von der Kriegerin erhält, stellt eine Abwechslung im Textformat dar und gestaltet somit das Lesen vielseitig. Der immer letzte Satz dieser Briefe „Ich hoffe du hältst dich aufrecht. X“ (Bukowski, 2022: 89) ist hierbei nicht nur eine immer wiederkehrende Botschaft an Lisbeth, sondern auch ein Sinnbild davon, wie die Kriegerin Lisbeth zur eigenen Selbstkonfrontation lenkt und immer wieder neu ermutigt.
Wer bei Bukowskis zweitem Roman jedoch auf einen klassischen Handlungsverlauf hofft, wird enttäuscht sein. Statt einer stringenten Entwicklung von Ereignissen zu folgen, findet die tatsächliche Entwicklung eher im Inneren der Protagonistin statt und wird von da nach außen getragen. Statt der Schilderung einer linearen Geschichte, verfolgt Bukowskis Roman eher die Intention, den Umgang mit inneren Konflikten darzustellen. Dass Lisbeth hierbei viel verbreitete Themen wie Missbrauch, Unzufriedenheit, aber auch den Umgang mit körperlichen Erkrankungen bewegen, sorgt für ein großes Identifikationspotential. Jede*r Leser*in kann im Roman fast sicher auch eigene Züge (in verschiedenen Ausprägungen) in Lisbeth gespiegelt sehen. Vielleicht sorgt auch gerade dieser Aspekt dafür, dass manche Passagen emotional intensiv zu lesen sein können, aber eben dadurch gleichzeitig zum Weiterlesen antreiben.
Lediglich das Ende des Romans ist meiner Ansicht nach eine gewisse Enttäuschung, da es sich von der vorherigen Erzählstrategie unterscheidet. So bekommt man zum Ende des Romans manchmal das Gefühl, dass Bukowski in diesem unbedingt noch möglichst viel der handelnden Figuren aufschlüsseln wollte, indem sie auf wenigen letzten Seiten sehr oberflächlich ganz neue Informationen einbringt. Dadurch hat man am Ende des Romans noch immer einige Fragen und Ungewissheiten und das Gefühl eines wirklich runden Abschlusses bleibt aus.
Meiner Meinung nach lohnt sich die Lektüre des Romans trotzdem sehr, da diese eine sehr emotionale und intensive Erfahrung ist, aus welcher man den ein oder anderen Schluss für sein eigenes Leben ziehen kann.
Die Kriegerin, Helene Bukowski, 2022, Aufbau Verlag, 256 Seiten, 23 Euro.
Lias Jonathan Menge studiert Frankoromanistik und Germanistik auf Lehramt für das Gymnasium und die Oberschule. Besonders gerne liest er die Bücher des französischsprachigen Autors Albert Camus, dessen Werke er in seinem Auslandssemester in Paris gut kennengelernt hat. Vor allem französische Bücher stapeln sich seit dieser Zeit bei ihm. Neben Büchern sammelt er Schallplatten von David Bowie und Queen, deren Lieder er zuweilen auch selber auf seiner Gitarre spielt. Voraussichtlich schließt er im Sommersemester 2023 sein Bachelorstudium ab.