„Und wahrscheinlich haben alle ihre Dschinns“

© privat

Von Kristin Krause

Eine Wohnung in Istanbul, das war Hüseyins Traum. Eine Wohnung in Istanbul für seine Familie. 30 Jahre hat er dafür gearbeitet, ist als einer der vielen Gastarbeiter:innen nach Deutschland gekommen und war sich nicht zu schade für die Arbeit, die die Deutschen nicht machen wollten. Nun ist es geschafft, mit 59 ist er Eigentümer, die Wohnung ist hergerichtet, die Möbel aufgebaut, nächste Woche kommt die Familie, um sie zu begutachten. Hüseyin ist stolz, während er die Räume ein letztes Mal inspiziert, malt er sich aus, wie es wohl sein wird, hier zu leben. Vielleicht geht er gar nicht mehr zurück nach Deutschland? Doch dann ist da plötzlich dieses Ziehen, ein stechender Schmerz im linken Arm. Hüseyin geht zu Boden. Ein Herzinfarkt. Soll etwa alles umsonst gewesen sein? Noch während die Nachbarin einen Krankenwagen ruft, stirbt Hüseyin im Flur seines hart erarbeiteten Traums. Seine Familie reist nach und nach an, doch der Anlass ist nun ein anderer. 

So beginnt Fatma Aydemirs zweiter Roman Dschinns, tragisch, mit einem Knall. Der Tod des Familienoberhaupts gibt für jedes Familienmitglied den Anlass mit der eigenen Familie, dem Land, in dem sie aufgewachsen sind, und dem Land ihrer Wurzeln ins Gericht zu gehen. Aydemir gibt ihren Figuren dafür genügend Raum, jedes Familienmitglied kommt in einem eigenen Kapitel zu Wort. 

Da ist Ümit, der jüngste Sohn von Emine und Hüseyin, der als einziger noch zu Hause lebt. Ümit, der in Jonas aus seiner Fußballmannschaft verliebt ist, es aber niemanden sagen kann, vor allem nicht seinem Vater. Lieber geht er zum Psychologen, um vom Verliebtsein „geheilt“ zu werden. 

Da ist Peri, die jüngste Tochter, die versucht den komplexen Verhältnissen ihrer Herkunft durch ein Germanistikstudium, feministische Theorie und Drogen zu entkommen. Doch ein Leben zwischen Technoparty, Nietzsche und ihrer feministischen Frauengruppe helfen ihr nicht, über die Unwissenheit ihrer Herkunft, über die Sprachlosigkeit ihres Vaters, über die immer wiederkehrenden depressiven Phasen ihrer Mutter und über ihre eigene Zerrissenheit hinwegzukommen. 

Da ist Hakan, der älteste Sohn, der nun an die Stelle seines Vaters als Familienoberhaupt treten müsste. Doch Hakan hat seinen Platz in der Welt noch nicht gefunden, er ist immer noch auf der Suche, hadert dabei mit der Rolle des ältesten Sohnes. Er will sich nicht wie sein Vater kaputtarbeiten. Hüseyin hat es nicht anders gekannt, Hakan schon. Er will es anders machen, bekommt aber keine Chance, sich zu beweisen. 

Da ist Sevda, Hüseyins älteste Tochter, die alleine bei den Großeltern zurückgelassen wurde, als Emine Hüseyin nach Deutschland gefolgt ist und erst mit 13 Jahren nachkommen durfte. Sevda, die den Traditionen am stärksten unterlag, indem sie eine arrangierte Ehe eingehen musste, die von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Doch sie schafft es, sich aus der Unsichtbarkeit herauszuarbeiten. Sie besitzt ein eigenes Restaurant und macht es ihrem Vater nach – sie arbeitet sich kaputt. 

Und schließlich ist da Emine, die Mutter, die Ehefrau. Emine, die wohl am meisten von den Familienmitgliedern Opfer der gesellschaftlichen Regeln geworden ist, denen sie sich unterordnen musste. Die, die ein schreckliches Familiengeheimnis mit sich trägt. 

Schnell wird klar: Obwohl sie eine Familie sind, stehen sie sich nicht sehr nah. Sie wissen so gut wie gar nichts übereinander, sie halten sie für stark, oft auch für schuldig. „Antworten gab es eben in dieser Familie kaum, alle erzählten immer nur dieselben Geschichten, die ihnen nicht wehtaten, sie klangen jedes Mal ein bisschen anders, manchmal kamen neue Details hinzu, harmlose Kleinigkeiten, die immer mehr verbargen, als dass sie irgendetwas erklärten (S. 189). Dieses Schweigen, die Sprachlosigkeit jedes einzelnen Familienmitglieds zieht sich als führende Thematik durch den gesamten Roman. Platz für Offenheit, für intime Fragen gibt es in dieser Familie nicht. Die Angst vor der Wahrheit und deren Konsequenzen ist zu hoch. Lieber lebt jede Figur mit ihren eigenen von der Gesellschaft oder der Familie aufgebürdeten Zwängen. Wie Dämonen umgeben sie die Figuren zu jeder Zeit. Bereits der Titel des Romans gibt Hinweise darauf. Im islamischen Glauben ist ein Dschinn ein Wesen, das aus rauchlosem Feuer erschaffen wurde. Dschinns können in die Körper von Menschen fahren und so auf sie einwirken, sie sogar regelrecht verrückt machen. Jede Figur in diesem Roman hat mit seinem eigenen Dschinn zu kämpfen.  Sie entstehen aus der eigenen Vergangenheit, aus Traumata und Abgrenzung und manifestieren sich in der Sprachlosigkeit: „Vielleicht sind das die Dschinns, die Wahrheiten, die immer da sind, die immer im Raum stehen, ob man will oder nicht, aber die man nicht ausspricht, in der Hoffnung, dass sie einen dann in Ruhe lassen, dass sie im Verborgenen bleiben für immer“( S.193). 

In jedem Kapitel werden diese Wahrheiten nun für die Leserschaft zugänglich gemacht. Sie dienen als eine Art Puzzlestück dieser Familiengeschichte, denn mit jedem Kapitel wird das vorherig entworfene Bild eingerissen und neu aufgebaut. Während Ümit so zum Beispiel glaubt, Hakan wisse genau, was zu tun wäre, um seiner trauernden Familie zu helfen, findet man später heraus, dass das Gegenteil der Fall ist. Hakan ist genauso überfordert von der Situation wie alle anderen. 

Durch diese vielfältige Erzählperspektive schafft es Aydemir, den Leser:innen die Figuren besonders nah zu bringen. Sie lässt sie zu Wort kommen, sich erklären und ermöglicht es so, die Ansichten, die man sich über die Figur gemacht hat, zu revidieren. Indem sie den Familienmitgliedern die Möglichkeit gibt, sich zu äußern, tritt sie der Sprachlosigkeit so entgegen. So unterschiedlich jede Figur ist, so sehr unterscheidet sich auch die Sprache, die Aydemir für sie wählt. Mal rotzig, mal vorsichtig, mal „machomäßig“. Gerade die unterschiedliche Sprache der Figuren macht das Leseerlebnis besonders authentisch. 

Es ist jedoch nicht nur ein reiner Familienroman. Anhand der Schicksale der einzelnen Familienmitglieder zeichnet sich ein Gesellschaftsportrait der 90er Jahre zwischen Deutschland und der Türkei ab. Die Geschichte spielt in einer Zeit, in der Neonazis Flüchtlingsheime anzünden, in der Migranten der Willkürlichkeit der Polizei ausgesetzt sind und keine Macht haben, dem etwas entgegenzusetzen. Sie leben in einer Zeit in der Homosexualität als Krankheit angesehen wird, die angeblich geheilt werden kann. Die Figuren leben ein Dasein des Dazwischen – zwischen zwei Welten, zwei Kulturen und zwei Ländern. Trotz der Vielfalt an Thematiken, die angesprochen werden, ist der Roman weder überladen noch oberflächlich, vielmehr macht es die Geschichte authentisch. 

Bereits in ihrem Debüt Ellbogen aus dem Jahr 2017 behandelt Fatma Aydemir diesen Zustand. Auch hier wird die Geschichte eines jungen Mädchens erzählt, deren Eltern als Gastarbeiter:innen nach Deutschland gekommen sind. Das Mädchen wächst in Deutschland auf, ist jedoch immer auf der Suche nach ihrer Heimat und findet sich wie Familie Yilmaz letztendlich in Istanbul wieder. Während die Reise in die Türkei in Dschinns für einige Familienmitglieder jedoch die vorsichtige Möglichkeit bietet, sich aus der eigenen Sprachlosigkeit zu befreien, bleibt die Protagonistin in Ellbogenperspektivlos zurück. Während der sprachliche Stil in Ellbogen noch wilder und härter ist, fühlt sich die Erzählweise in Dschinns bereits reifer, dennoch genauso kraftvoll an. 

Auch die Anthologie Eure Heimat ist unser Albtraum, die die Kolumnistin und Redakteurin der taz 2019 gemeinsam mit Hengameh Yaghoobifarah herausgebracht hat, reiht sich in die Thematik ein. Hier wird das Konzept „Heimat“ in 13 Gastbeiträgen hinterfragt und gibt Perspektiven Raum, die Rassismus und Antisemitismus erfahren haben. 

So wie der Roman begann, so endet er auch: mit einem Knall. Die Kapitel von Hüseyin und Emine umrahmen die Kapitel ihrer Kinder. Sie werden als einzige von einer außenstehenden Erzählerstimme gesprochen. Man kann annehmen, dass die Dschinns mit ihnen sprechen, dass sie diejenigen sind, die die Geschichte erzählen. Thematisch und dramaturgisch sind diese beiden Kapitel auch die stärksten und emotionalsten des Romans. 

Fatma Aydemir hat mit Dschinns einen beeindruckenden Roman vorgelegt, der aufgrund der gesellschaftlichen Wandlungen der letzten Jahre auch in der heutigen Zeit spielen könnte. Sie zeichnet ein Leben im Dazwischen, ein Leben des auf-der-Suche-Seins, des Sich-nicht-verstanden-fühlens. Sie zeichnet ein Leben, das dazu verdammt ist, sich klein zu machen und im Mittelmaß zu verschwinden oder zu rebellieren. Ein Leben, dessen Dschinns man nur schwerlich entkommen kann.

Dschinns, Fatma Aydemir, 2022, Hanser Verlag, 368 Seiten, 24 Euro.

© privat

Kristin Krause studiert Germanistik und Kulturwissenschaften. Zuvor hat sie bereits eine Ausbildung zur Buchhändlerin absolviert. In ihrem Ausbildungsbetrieb arbeitet sie neben ihrem Studium immer noch. Wenn sie sich nicht durch wissenschaftliche Texte oder die neusten Romanen ackert, liest sie am liebsten Literatur mit feministischem und postkolonialem Hintergrund. Herrscht bei ihr mal eine Leseflaute, geht sie am liebsten auf Konzerte oder sieht dem Gemüse in ihrem Schrebergarten beim Wachsen zu. 

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