Roman und Protagonist zwischen den Fronten

von Henrieke Homburg

Foto: privat

Große Fragen sind es, für die Olga Grjasnowas neuester Roman Der verlorene Sohn Anknüpfungspunkte bietet. Fragen nach Identität und Macht, dem Einfluss kultureller Normen auf politisches Handeln und Fragen um die Absurdität dessen, zu was dieser Einfluss Menschen bringt. Denn sie erzählt die Geschichte Jamalludins, des Sohnes eines kaukasischen Herrschers und Imams, Schamil, der 1839 im Alter von neun Jahren als Geisel nach Russland gebracht wird – in der Hoffnung, auf diese Weise Friedensverhandlungen mit dem Zarenreich aufnehmen zu können. Als Ausgangslage für diesen Roman dienen also wahre Geschehnisse, aus denen sich die Autorin die Geschichte des jungen Jamalludins herausgreift und etwa 15 Jahre seines Lebens nachzeichnet und ausschmückt.

So begeben wir uns mit ihm auf die Reise und folgen seiner Ankunft in St. Petersburg, seiner Ausbildung an einer namhaften Kadettenanstalt und schließlich seines Eintretens in die russische Armee – und all das, während sein Vater noch immer gegen den Zaren kämpft. Er wird Teil der Gesellschaft, macht Bekanntschaft mit angesehenen Familien, dem Hochadel. Gleichzeitig bekommt er jedoch auch immer wieder zu spüren, dass er doch nicht ganz zu ihnen gehört. Weil er eben doch nur als Geisel und Sohn eines Feindes zu ihnen kam, als politisches Instrumentarium, weil er eben doch muslimisch ist, und weil er sich eben doch manchmal fragt, ob und wann er zu seiner Familie zurückkehren wird. Dass er die Sprache seiner Kindheit nach und nach immer mehr vergisst und sich mit einer Tochter aus gutem Hause glücklich verlobt, scheint bloß Deckmantel seiner inneren Zerrissenheit zu sein. Seine Stellung und seine Beziehungen sind und bleiben geprägt durch seine Herkunft und die politische Funktion seiner Person.

Ein Umstand, der zeitweise in Vergessenheit gerät. Die Beschreibung seiner Lebensgeschichte verliert sich allzu oft in romantisierenden Motiven und Beschreibungen des Petersburger Lebens in der klassischen Gegenüberstellung zum Freiheitsdrang, der in einfachen Verhältnissen lebender Kaukasier. So tauchen wir eher ab in einen Historienroman. Durch die bildhaften Beschreibungen Grjasnowas, erhalten wir immer auch einige Hintergrundinformationen der Personen, die Jamalludin auf seinem Weg begleiten, und damit auch der Normen und Dynamiken der russischen Gesellschaft. Damit einher gehen schließlich ganz typisch auch Bälle, Intrigen, unglückliche Lieben und Duelle zum Erhalt der männlichen Ehre.

Die Schilderungen der Gedanken und Gefühle des Protagonisten fallen dagegen eher oberflächlich aus. Ab und zu gibt es kurze Einblicke in seine Gedankenwelt, eine tatsächliche Reflexion der Geschehnisse und all ihrer Folgen wird dabei aber nicht erzählt. Und auch sonst werden einige spannende Themenstränge nur kurz angekratzt, genannt, aber nicht vertieft. Wie die Beschreibungen des sich verstärkenden Antisemitismus im russischen Kaiserreich, die emanzipatorischen Ideen junger Frauen oder auch die Exotisierung der in Russland lebenden Kaukasier. Vermutlich sollte der Fokus nicht zu sehr von der Biographie des Protagonisten abrücken, um einer Übertragbarkeit nicht im Wege zu stehen. Auf diese Weise aber verschließt sich die Autorin auch dem Potential des Stoffs, nämlich dem Auftun vielschichtiger Überlegungen zum Thema Identität, Macht und Ohnmacht, Herkunft und Erinnerung. In gewisser Hinsicht verzerrt das Erscheinungsbild als Historienroman und die biographischen Elemente die Funktion der Erzählung als Parabel, die wiederum die Ausführung vielfältiger Diskursansätze ausbremst. Denn erst am Ende wird dann noch einmal mit voller Wucht klar, worum es hier eigentlich gehen soll: Jamalludins Heimreise zu seinem Vater wird nicht etwa zur glücklichen Rückkehr des verlorenen Sohnes, sondern vergegenwärtigt schmerzlich die Folgen seiner Entwurzelung und politischen Instrumentalisierung seiner Person.

Der verlorene Sohn, Olga Grjasnowa, 2020, Aufbau Verlag, 382 Seiten, 22€

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