
Von Benjamin Löber
Verlage klassifizieren Texte damit Menschen wissen, was sie kaufen. „Roman“ steht auf dem bunten Cover von Eine runde Sache. Wahrscheinlich muss es dort stehen. Der israelische Autor Tomer Gardi hat mit diesem Buch jedoch alles andere als einen klassischen Roman verfasst. Sein Werk setzt sich aus zwei Teilen zusammen. Eingeleitet werden beide durch ein Gedicht des jüdischen Dichters Avoth Yeshurun. Abgedruckt ist es im hebräischen Original, weiter unten in der deutschen Übersetzung. Zwei Schriftebenen, die gleiche Bedeutung. Schon hier ein Hinweis darauf, was uns erwartet.
Broken German nannte Gardi 2016 nicht nur seinen ersten Roman, sondern gleichsam die Art, wie er als Nicht-Muttersprachler mit der deutschen Sprache umzugehen und vor allem zu spielen weiß. Ihr Funktionieren liegt nicht allein im Reich der Syntax. Der gebrochene, intuitive, zuweilen abstrakte Ausdruck entwickelt schnell seinen eigenen Klang und eröffnet nicht nur den Zugang zu Gardis Humor, welcher sich mal elegant mal etwas plump kleidet. Er markiert zusätzlich den Beginn der absurden Reise des ersten Textteils. Durch ein konstitutives Missverständnis nämlich zwischen den Wörtern Yacht und Jagd, befindet sich der Erzähler, der sich Tomer Gardi nennt, plötzlich als Gejagter in Lebensgefahr. Ohne dieses Missverständnis gäbe es die Erzählung nicht. Und genau hier, so lässt sich vermuten, liegt ein Schlüssel zu Gardis Sprachverständnis. Das Anders-Verstehen ist durch die Form der Sprache immer eine Option.
Gardi flieht also, versteckt sich auf einem Baum, der deutsche Schäferhund seines Verfolgers schläft unter ihm ein. Er schafft es ihn zu überwältigen, ihn zu knebeln. Der Hund fängt an zu reden doch der einzige Vokal, den er noch artikulieren kann ist das deutsche Ü. Die beiden tun sich zusammen und treffen beim ziellosen Wandern durch den Wald den Erlkönig, der sich ihnen aus Einsamkeit anschließt und, wenn er sein Schweigen bricht, konsequent in Reimen spricht.
Das Absurde ist jedoch keineswegs wahllos gesetzt. So wie ein romantischer Nebel an vielen Stellen dieser Odyssee Blicke erschwert, wabert durch den Text ein wahrer Wust an Zeichen deutscher Kulturgeschichte. Die mehr oder weniger freiwilligen Gefährten Gardis sind dabei nur der Anfang. Im Verlauf der Reise wird es die Gruppe mit Adlern, Hexen und Nibelungen Königinnen zu tun bekommen. Doch genau an diesen Stellen schwappt die Absurdität plötzlich in unsere Gegenwart. Es sind Szenen in denen Fremdheit markiert und Wege verschlossen werden. Die Zuschreibung von Rollen und speziell, denn dieser Mythos wird sogar beim Namen genannt, der des ewigen Juden, ist dabei besonders relevant. Eine Rolle dazu verdammt heimatlos zu sein auf alle Zeit. Aufgerufen wird hier der Diskurs um jüdische Identität und selbstbestimmtes jüdisch Leben in Deutschland. Gardis Text macht durch seine Form und das, was er beschreibt in doppelter Hinsicht sichtbar wie fragil und vor allem fluide die Zeichen sind, die Konstrukte wie Kultur, Sprache und Heimat scheinbar befestigen.
Doch was soll jetzt noch folgen? Erzählt wird im zweiten Textteil die Geschichte der historischen Figur Raden Salehs, seines Zeichens javanischer Prinz und Maler im Dienste der Niederländischen Kolonialmacht. Seine Geschichte hat Tomer Gardi auf Hebräisch festgehalten, welches anschließend von Anne Birkenhauer übersetzt worden ist. Die Sprache hier ist exakt und detailgenau, der Ton verliert dabei nie seine Leichtigkeit. Raden Salehs Talent führt ihn als ersten indigenen Menschen zur Malereiausbildung nach Europa. Hier assimiliert er sich langsam aber virtuos zwischen Adel und Bohème, wird zur regelrechten Glanzfigur. Auch er kommt durch eine Erzählung in Berührung mit dem Mythos des ewigen Juden. Zwangsläufig verläuft die Entfremdung, die ihn mehr und mehr von seiner unterdrückten und ausgebeuteten Heimat trennt. Raden Salehs Identität ist durch Europa ebenso fremdbestimmt wie brüchig. Die Zeichen, die ihn auf seiner Reise umgeben sind materieller Natur. Durch seine Arbeit häufen sich verliehene Orden und symbolträchtige Kleidungsstücke. Deren Macht verfliegt jedoch mit wechselnder Herrschaftspolitik und nicht zuletzt scheinen sie bei seiner Rückkehr nach Java quasi bedeutungslos.
Es gibt Momente, in denen sich beide Texte gegenseitig zitieren. Die Aussage „Alles ist immer in Bewegung“ ist eines der prägnantesten Beispiele. Gardi weiß um die komplizierte Position von Kunstschaffenden als jene, die Zeichen in die Welt setzen, doch auch immer von jenen abhängig sind, die sie umgeben. Er schickt in beiden Texten gekonnt Künstler durch einen Sturm aus instabiler Zeichenhaftigkeit für deren Verständnis stets die Bewegung der Übersetzung notwendig ist. Sie durchzieht die Texte wie ein roter Faden. Sei es Tomer Gardi, der dem Schäferhund übersetzt, was der Erlkönig reimt, sei es jenes zwischen Javanisch und Niederländisch, sei es das wortwörtliche Übersetzen von Europa nach Java oder sei es schließlich das Übersetzen vom Hebräischen ins Deutsche.
Abschließend ist es mehr als passend, dass die Erzählinstanz des zweiten Teils als Wachperson in einer Galerie arbeitet. Sie tritt nur vereinzelt mit Kommentaren in Erscheinung, während sie uns die Geschichte von Raden Saleh erzählt. Tomer Gardi hat mit seinem Buch ebenfalls eine Galerie entworfen. Eine Galerie der Sprache. Und es macht Spaß, sie zu erkunden. Auf der einen Seite das abstrakte Kunstwerk voller bunter Formen, auf den ersten Blick ein Chaos. Auf der anderen Seite Realismus und Details. Die Lektüre von Eine Runde Sache ist der erhellende und aufregende Prozess dazwischen, in dem wir nach und nach verstehen und Verbindungen knüpfen, ohne uns, zum Glück, je sicher sein zu können.
Eine runde Sache, Tomer Gardi, 2021, Droschl Verlag, 256 Seiten, 22,00 Euro.