
Von Neele von Döhren
Hayat hat blonde Locken. Das wäre nicht weiter aufsehenerregend, wäre sie nicht in Marokko geboren. In einer ärmlichen Gegend in Marrakesch aufwachsend, erlebt sie aufgrund dieser äußerlichen Andersartigkeit eine gewaltvolle Kindheit. Von den Eltern misshandelt und von der Gesellschaft zu etwas Fremdartigem stilisiert, flüchtet sie sich mit 14 Jahren zu der berühmten Serghinia, von ihr Mamyta genannt, die als Sängerin, Tänzerin und Liebhaberin ihr Geld verdient. Mahi Binebines Roman Rue du Pardon erzählt die verwobene Lebensgeschichte dieser zwei Frauen und stellt die Frage, wie mit vermeintlicher Fremd- oder Andersartigkeit in einer Gesellschaft umgegangen wird. Vor allem erzählt er aber von der Kraft des Zusammenhalts und der Sinnlichkeit der Kunst und des Tanzes. Durch Mamytas hingebungsvolle Zuwendung gewinnt Hayat das erste Mal in ihrem Leben eine liebevolle Familie. Sie beginnt den Zauber der Kunst zu empfinden, lernt die Sinnlichkeit des Tanzes kennen und wird in Mamytas Ensemble aufgenommen. Aufgrund von Missgunst und Neid scheint diese schillernde Welt ins Wanken zu geraten. Doch dank Mamyta und weiteren starken Frauen gewinnt sie trotz aller Hindernisse, die sich noch stellen sollen, ein neues Leben. Und Hayat heißt schließlich Leben.
Dabei tritt Hayat selbst als Erzählerin ihrer Geschichte auf und wendet sich in direkter Ansprache an die Leser*innen. Mahi Binebine hat damit wie auch in früheren Romanen wieder eine jugendliche Figur als Protagonistin und Erzählerin. Doch auch wenn Hayat in großen Teilen der Erzählung erst 14 Jahre alt ist, so hat sie doch immer die Perspektive einer erwachsenen Frau auf die Welt. Zu Anfang noch etwas irritierend, stellt sich dies im Laufe der Erzählung als kluger Kniff heraus. Denn Hayat erzählt ihre Geschichte 30 Jahre später aus ihren Erinnerungen. Nachdem sie sich ihr neues Leben erkämpft hat, geht sie zurück in die Vergangenheit. Die Erzählung läuft nicht immer chronologisch, es bleiben Lücken. Aber so funktionieren eben Erinnerungen. Wir lernen die Hayat umgebende Welt durch ihre Augen kennen. Binebine schafft es ohne große Beschreibungen von Orten ein Gefühl für Marokko, für Marrakesch, und das Leben dort zu vermitteln. Vor allem aber schafft er es, die Leichtigkeit und Sinnlichkeit des orientalischen Tanzes in Worte zu übersetzen. Auch wenn die Erzählung ernste Themen verhandelt, schweben wir durch sie hindurch.
Dadurch erlaubt der Roman sehr unterschiedlich intensive Lektüren. Wir können uns von den sinnlich-poetischen Worten durch die Oberfläche der Handlung tragen lassen. Sie mutet märchenhaft an, erinnert inhaltlich an Aschenputtel und Dornröschen, stilistisch an Märchen aus 1001 Nacht. Aber der Roman ermöglicht es eben auch, unter die Oberfläche zu schauen. Wie im tänzerischen Rausch tauchen wir in die Geschichte ein. Binebine verdichtet immer wieder poetisch, sodass einige Stellen sicherlich einer mehrfachen Lektüre, durchdachten Interpretationen oder angeregten Unterhaltungen bedürfen.
Mahi Binebine erzählt feinsinnig eine Geschichte der Selbstermächtigung, eine Geschichte der Solidarität. Er schildert die marokkanische Gesellschaft liebevoll und schafft eine Hommage an die Künste, den Tanz und vor allem die freien, selbstbewussten Frauen. Er schreibt mit Rue du Pardon einen Familienroman – einen Roman über die Kraft einer selbst gewählten Familie.
Rue du Pardon, Mahi Binebine, übersetzt von Christiane Kayser, 2021, Lenos Verlag, 158 Seiten, 20,00 Euro.