
Von Anna Schott
Wie erzählt man ein Leben – von der Geburt bis zum Tod? Anhand der Orte, an denen es sich abspielt? Anhand der Personen, deren Wege man kreuzt? Anhand der Geschichte der Vorfahren oder des Weltgeschehens, das sich in der Zeitspanne des eigenen ereignet, von dem man beeinflusst, ergriffen ist? Erzählt man von dem, was bleibt oder hält man fest, was nicht schwinden soll?
Liest man den Klappentext von Emine Özdamars Roman Ein von Schatten begrenzter Raum, so könnte man meinen, es erwarte die Leser*innen die erfolgreiche Migrationsgeschichte einer jungen Frau, die Schauspielerin wird in einem Europa des 20. Jahrhunderts. Die Handlung ist da: die Ich-Erzählerin, nur in Dialogen benannt, Schauspielerin aus Istanbul, geht nach dem Militärputsch 1971 von dort nach Berlin, weiter nach Paris, Bochum, zurück nach Istanbul, wieder nach Deutschland. Sie arbeitet am Theater: als Regieassistentin und als Schauspielerin, als die sie – wie ihr zuvor von zwei Krähen prophezeit wurde – immer wieder die Putzfrau spielt. Die Handlung ist da: ein Leben wird erzählt, und doch geschieht dies nicht maßgeblich durch die erzählte Handlung, sondern durch das Verfahren des Textes.
Denn wie auch die Erzählerin an ihren zahlreichen Stationen Collagen klebt – Weinflaschen zu Figuren kleidet, Zeitschriften, Fotos, endloses Material sammelt und für die Inszenierungen zu Collagen verarbeitet, ein Material, das ganze Räume füllt – so funktioniert auch der Text wie eine Collage. Ein Aneinander von geographischen Orten, Wohnungen und Friedhöfen, Erinnerungen, Dialogen mit Menschen, die das Leben der Erzählerin streifen, an Fremdtexten aus Gedichten, Liedern, Dramen, verschiedenen Sprachen, die vermischt werden, Imaginiertem und ganz realem, politischem Geschehen, das stets mitgedacht und verhandelt wird. Das Material wird, grob chronologisch geordnet, verknüpft, es wird mit Zeitsprüngen, Wiederholungen, Rückblenden verarbeitet.
So wie der Text ist auch das Leben der Erzählerin von Sprunghaftigkeit gekennzeichnet. Es ist ein bewegter Text, der sich im Unterwegs realisiert, in Zwischenräumen wie Zugfahrten, Spaziergängen, in Bewegungen in Spiegelbildern, Wegen über das Meer, geführt von einem Seeigel. In diesen Momenten von Bewegung werden Kategorien wie Zeit und Raum untergraben, tausende Kilometer zu Fuß zurückgelegt, der armenische Friedhof Istanbuls liegt plötzlich in Berlin.
Beim Lesen fällt es zuweilen schwer, in der Fülle, der manchmal ungeordneten, verwirrenden Materialfülle nicht unterzugehen, zu ordnen. Und doch bleibt am Ende der Gedanke, dass das Leben eben genau das ist: eine Verflechtung von Erinnerungen, Bildern, Imaginiertem und Geschehenem, Sprachen, Geliehenem, Produziertem. Özdamar gelingt es, im Verfahren ihrer eigenen Arbeit genau dies umzusetzen und erzählt mit ihrem Textmaterial ein Leben, radikal subjektiv und doch losgelöst von einer, oder gar ihrer, Person – zwischen Erinnerung und Imagination.
Ein von Schatten begrenzter Raum, Emine Sevgi Özdamar, 2021, Suhrkamp Verlag, 762 Seiten, 28,00 Euro.