Das verlorene Paradies

Es ist eine merkwürdige Zeit für merk-würdige Begegnungen, ein paar Tage kurz vor dem sogenannten Lockdown light, der auch für die Literatur- und Kulturszene erneute Ungewissheiten birgt. Umso mehr freue ich mich auf ein persönliches Gespräch mit Matthias Nawrat, Autor des 2019 erschienenen Buches Der traurige Gast. Was als ein Gespräch über eben diesen Roman geplant war, entwickelte sich auch zu einem Fragen nach den Möglichkeiten und Potentialen des menschlichen Daseins.

Corona prohibiti

Dreiundzwanzig Veranstaltungen waren als Teil des Literaturfestivals globale° dieses Jahr geplant gewesen. An einem im Nachhinein fast symbolischen Abend – am letzten Tag bevor die Ministerpräsidenten in Berlin für den November neue Regelungen zur Pandemie-Bekämpfung verabschiedeten – wurde im Rathaussaal in Bremen das Festival offiziell eröffnet. Zwölf Reihen an Stühlen wurden im Saal aufgestellt, mit jeweils vier in großem Abstand positionierten Sitzgelegenheiten. Zwei Literat*innen waren für das Gespräch eingeladen worden, zwei Redner richteten Begrüßungsworte an das Publikum. Neun mal fiel der Name des Festivals und sechs mal wurde der Deutsche Buchpreis erwähnt. Ein Wort jedoch wurde um jeden Preis vermieden: Corona.

Wie Themis aus der Asche

Es ist ein Aufruf zur aktiven Demokratie, zusammengefasst im Wendeformat auf knapp achtzig Seiten in deutsch-türkischer Ausführung. Der Journalist und Dokumentarfilmer Can Dündar plädiert in seinem 2018 erschienenen Buch „Bir şey yap!“ (dt. = „Tut was!“) für mehr internationale Solidarität und ein Festhalten an demokratischen Grundwerten. Im Rahmen eines polit-historischen Abrisses analysiert er präzise, wie die Demokratie vor allem im europäischen Kontext von Populismus und Angst zunehmend bedroht wird. Gleichzeitig liefert er Lösungsansätze, wie sich einzelne Akteure im kollektiven Zusammenschluss weiterhin für das altbekannte Herrschaftsmodell Demokratie einsetzen können.

Deutschland radikal anders denken

Nach der Streitschrift Desintegriert euch! folgt nun der Essayband Gegenwartsbewältigung vom Lyriker und promoviertem Politologen Max Czollek. Schon zu Beginn des Buches macht der Autor klar: „Ich schreibe das hier nicht für irgendwelche Rechten, sondern für Kolleg*innen, die wegen rechter Drohungen ihre Wohnungen wechseln müssen. Ich schreibe es für meine Familien und Freund*innen: Wir halten uns fest.“ Also kein Dialog mit den Rechten – und das ist auch gut so. Czollek liefert eine scharfsinnige und schonungslose Gegenwartsanalyse und ein bitter nötiges und brandaktuelles Plädoyer für radikale Vielfalt.

Einmal alles bitte!

Bei zweiteiligen Romantiteln, die durch ein „oder“ getrennt sind, könnte man meinen, dass der oder die Autor*in sich nicht recht entscheiden konnte, was das Buch eigentlich wollen soll. Diesen Eindruck kann man durchaus auch beim neuesten Roman von Boualem Sansal „Der Zug nach Erlingen oder Die Verwandlung Gottes“ gewinnen.

Der Hauch des Todes

Wie in einem James-Bond-Film verliert man doch recht schnell die Übersicht: wer heute noch in Marokko herumschnüffelt, ist morgen schon in Afghanistan – einmal nicht aufgepasst, verlieren sich die Zusammenhänge.

Inkompetenz und Gefahr

Masha Gessens Buch Autokratie überwinden erzeugt vor allem eins: Wut. In detaillierten und gut recherchierten Ausführungen macht Masha Gessen klar, dass Donald Trump sich von der Demokratie abgewandt hat und die autokratische Führung der USA übernommen hat. Von Tag eins an. Als Autokratie wird eine unkontrolliert politische Machtform bezeichnet. In vielen Einzelbeispielen führt Gessen an, wieso sie der Meinung ist, dass Trump genau so sein Land führt.

Die Verzichtkosten einer Existenz

Bücher, die den Fragen nach dem Sinn des Lebens nachgehen, gibt es zahlreiche. Auch das Antwortenspektrum auf diese Frage ist riesengroß und eine einzige richtige scheint es darauf nicht zu geben. In den Büchern wird dieser Frage mit Parabelgeschichten nachgegangen oder aber der*die Protagonist*in geht dem Ganzen ganz gezielt auf den Grund. Oft wird dann in Sinnbildern und Metaphern die Antwort erfahren. Sodass der*die Lesende selbst Erkenntnisse daraus ziehen kann, um so dann hoffentlich den Sinn des eigenen Lebens für sich zu verstehen.

Bruchstücke

Wann beginnt die Geschichte eines Menschen? Vielleicht mit seiner Geburt, mit seinen ersten Erinnerungen. Vielleicht auch schon davor, an dem Tag, als sich seine Eltern kennenlernen. Oder bei den Großeltern. Vielleicht beginnt sie an dem Tag, als jemand das Glück hat zu überleben. Oder sich entscheidet weiterzuleben. Und die Geschichte damit fortschreibt.

Leise Traurigkeit im großen Berlin

Der traurige Gast aus Matthias Nawrats gleichnamigen Roman ist die ganze Zeit da und doch verschwindet er fast völlig im Hintergrund. Er ist ein ruhiger und einfühlsamer Beobachter, der in klarer Sprache von seinen Begegnungen erzählt. Dabei treibt er durch ein Berlin, das sich ebenso von seiner ruhigeren Seite zeigt.

Die Wanderin im Nebelmeer

Anne Webers neustes, frisch mit dem Deutschen Buchpreis gekürtes Buch „Annette, ein Heldinnenepos“ geht der Frage nach, wie Heldinnengeschichten heute erzählt werden können und ob es das überhaupt noch gibt. Ein Gesang in Schriftform auf menschliche Versuche nach Idealen zu leben und auf das Scheitern – und gleichzeitig eine Reflexion über literarische Form und wie Vergangenheit und Gegenwart sich treffen können.

Verzweiflung und Hoffnung

Kinder verstehen die Gründe für Zorn oder Furcht nicht immer, doch das Gefühl können sie sehr gut einschätzen. Durch ihre Augen lassen sich viele Situationen sehr intuitiv miterleben. Auch wird Hilflosigkeit in manchen Situationen so noch einmal stärker betont. Abbas Khider erzählt in Palast der Miserablen von Shams und seiner Familie zur Zeit des Irak-Krieges. Der Roman wird aus Sicht von Shams erzählt, der zu Beginn noch ein Kind ist. Ein Roman, der zeigt, wie widersprüchlich das Leben während Kriegszeiten sein kann und wie wichtig Bücher besonders in solchen Zeiten sein können.